Erkunde die Geschichte von Migration, Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit in Deutschland und den USA über die Jahrhunderte.
Anschlag Halle
Am 09. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur (Versöhnungstag), begeht Stephan B. einen Anschlag auf die Synagoge im Paulusviertel in Halle. In der Synagoge sind an die 50 Menschen versammelt, viele sind aus den USA zu Besuch. Während des Anschlags sieht der Kantor den bewaffneten Täter durch die Überwachungskamera, reagiert schnell und ruft alle Anwesenden dazu auf, sich im oberen Stockwerk zu verbarrikadieren. Die Stimmung wird trotz der Extremsituation im Nachhinein als ruhig und besonnen beschrieben. Das Beten wird weitergeführt, bis die Polizei eintrifft. Nachdem es dem Täter misslingt, die Tür zu durchschießen, erschießt er vor dem Gebäude Jana Lange und nach einer kurzen Weiterfahrt im Imbiss „Kiez-Döner“ einen Gast, Kevin Schwarze. Abdi Raxmaan Aftax Ibrahim wird von ihm angefahren und überlebt. Dagmar Mönkemeyer und Jens Zinecker werden auf der Flucht verletzt.
Der Täter hat die Tat lange im Voraus geplant und schließt sich in seinem Vorgehen weiteren Tätern an, die im Internet ihr rechtsextremes, antisemitisches und rassistisches Weltbild in Form von Videos, oder selbst geschriebenen Manifesten wiedergeben. Zudem wird das Vorgehen von der antifeministischen Incel-Bewegung beeinflusst und im Stil von Gamification als Real-Shooterspiel mit einer Helmkamera als Livestream übertragen.
Von Mitte bis Ende 2020 erfolgt der Prozess am Landgericht Magdeburg und endet mit einer Verurteilung zur lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Das Verhalten der Polizei wird als langsam und unprofessionell beschrieben. Das Bundesjustizministerium zahlt Entschädigungen an die Betroffenen aus, sieht jedoch keine finanzielle Hilfe bei wirtschaftlichen Schäden nach Anschlägen vor. Im September 2020 wird die Opferhilfe reformiert, so dass Geschäfte finanzielle Hilfe beantragen können.
Anschlag Hanau
Am 19. Februar 2020 werden in Hanau innerhalb von knapp sechs Minuten vor und in einer Shisha-Bar, einem Kiosk und einer weiteren Bar neun Menschen bei einem Attentat getötet: Gökhan Gültekin (37), Sedat Gürbüz (29), Said Nesar Hashemi (21), Mercedes Kierpacz (35), Hamza Kurtović (22), Vili Viorel Păun (22), Fatih Saraçoğlu (34), Ferhat Unvar (24), Kaloyan Velkov (33). Sechs weitere Personen werden zum Teil schwer verletzt. Der Täter Tobias R. (43) flieht zunächst in sein Elternhaus, wo er zuerst seine Mutter Gabriele R. (72) und danach sich selbst erschießt. Sein Motiv ist zurückzuführen auf eine Mischung aus psychotischen Wahnvorstellungen und einem klaren Bekennen zu einem rechtsextremen, rassistischen, antisemitischen und antifeministischen Weltbild. Ähnlich des Täters von Halle plante er den Anschlag gründlich und kommunizierte seine Gedanken mittels eines Manifestes, das er auf seiner Webseite verbreitete. Der Vater des Täters, der ähnliche Vorstellungen vertritt, wurde wegen Beihilfe zum Mord angezeigt, die Strafanzeige ist jedoch eingestellt worden.
Nach der Tat bleiben viele Fragen offen. Unter anderem, wie es dem Täter möglich war in den Besitz einer Waffe zu kommen, obwohl eine offizielle Diagnose einer Psychose vorlag. Warum es der Polizei nicht gelang, rechtzeitig vor Ort und erreichbar zu sein und das Wohnhaus des Täters zu sichern. Wie es möglich war, dass 13 der 19 beteiligten Personen des SEK, die in der Nacht aus Frankfurt am Main in Hanau im Einsatz waren, an rechtsextremen Chatgruppen beteiligt waren. Und letztendlich: Warum der Notausgang einer Bar verschlossen war, die eine Flucht vor dem Täter hätte ermöglichen können und die Polizei davon Kenntnis hatte.
Am 20. Februar findet eine offizielle Trauerfeier statt, zuvor treffen sich Familien und Freund*innen der Ermordeten für eine Kundgebung und einen Schweigemarsch. Viele sprechen offen ihre Angst davor aus. Jede solche Tat erinnere Menschen mit Rassismuserfahrungen daran, in Deutschland nicht sicher zu sein. Weil von staatlicher Seite zwar Anteilnahme und Versprechen folgen, diese jedoch nicht umgesetzt werden, schließen sich Angehörige zusammen und gründen die “Initiative 19. Februar Hanau”. Des Weiteren findet #saytheirnames Verbreitung, um anknüpfend an die Black Lives Matters Bewegung die Namen der Getöteten nicht zu vergessen.
Zwar bilden diese Fälle die aktuellsten, aber bei weitem nicht die einzigen rassistischen und rechtsextremen Morde (siehe NSU Morde, 2011; siehe Mord Marwa El-Sherbini, 2009; siehe Mord Amadeu Antonio Kiowa, 1990). Am 22. Juli 2016 tötete David S. am und im Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) neun Menschen und verletzte fünf. Anschließend erschoss der 18-Jährige sich selbst. Er gibt in seinen Schriften den Rechtsextremen Anders Breivik als Vorbild an. 2019 wird der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, der sich mit Geflüchteten solidarisierte, im Garten seines Hauses erschossen. Das Bundeskriminalamt, das erst 1990 mit der Zählung von rechtsextremen Tötungen begann, zählt bis heute 109 Morde. Stiftungen und Organisationen wie Amadeu Antonio oder ezra kritisieren die Zählweise und gehen von mehr als 200 aus und geben an, dass auch hier oft an Obdachlosen verübte Tagen und durch polizeiliche Einwirkungen bewirkte Tötungen nicht mitgezählt werden.
Renner, Jan; Schilow, Leila (2021): Halle, 09. Oktober 2019. Der Anschlag, Ereignisse, Folgen, Hintergründe. Netzwerk für Demokratie und Courage Sachsen-Anhalt e.V. Magdeburg. https://www.netzwerk-courage.de/downloads/digitale_Handreichung_Anschlag_Halle_2021.pdf (Abgerufen am 02.08.2022)
Initiative 19. Februar Hanau. https://19feb-hanau.org/aktuell/ (Abgerufen am 02.08.2022) mach mit! Demokratie (er)leben Hanau. # SayTheirNames https://www.demokratie-leben-hanau.de/projekte/projekte-2021/saytheirnames-projekt (Abgerufen am 02.08.2022)
Bundeszentrale für politische Bildung. Hintergrund aktuell. Vor zwei Jahren: Anschlag in Hanau. 18.02.2022. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/505333/vor-zwei-jahren-anschlag-in-hanau/ (Abgerufen am 02.08.2022)
Bundeszentrale für politische Bildung. Hintergrund aktuell. Rechtsextremismus. Rechtsextreme Gewalt in Deutschland. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/324634/rechtsextreme-gewalt-in-deutschland/ (Abgerufen am 02.08.2022)
Baeck, Jean-Philipp; Speit, Andreas(2020): Rechte Egoshooter. Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat. Christoph Links Verlag. https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Baeck-Speit_Egoshooter_BpB-Leseprobe.pdf (Abgerufen am 02.08.2022)
stadtRAUMfrankfurt: Podiumsdiskussion: 2 Jahre Hanau – Entwicklungen und Konsequenzen seit dem rassistischen Terroranschlag. 11.02.2022. https://www.youtube.com/watch?v=b9mIUX4fbZg (Abgerufen am 02.08.2022)
Amadeu Antonio Stiftung: Todesopfer rechter Gewalt. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/ (Abgerufen am 02.08.2022)