In politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Debatten bleibt die ostdeutsche Perspektive in der BRD oft unsichtbar und wird von westdeutschen Diskursen bestimmt.
Undemokratisches und rassistisches Verhalten, Gefühle von Abgehängtsein und wirtschaftlichem Abstieg werden von einer gesamtdeutschen Perspektive auf Ostdeutschland reduziert. Die DEZIM-Studie „Ost-Migrantische Analogien“ von 2019 weist diese empfundenen Ausschlüsse auch empirisch nach und bestätigt, dass eine Form der Diskriminierung vorliegt, die über das Ostdeutschsein erfolgt.
Ost-migrantische und rassifizierte Menschen erleben hierbei eine doppelte Unsichtbarkeit und Diskriminierung, auch weil oft die Annahme herrscht, dass der Osten weiß ist und die Geschichte der DDR-Migration in der westdeutschen Migrationsgeschichte untergeht (siehe Arbeitsabkommen DDR und osteuropäische Staaten, 1971; siehe Arbeitsabkommen DDR und außereuropäische Staaten, 1976). Versuche unterschiedliche Perspektiven auf Migration und Rassismus zusammenzuführen gab es bereits Ende der 80er Jahre mit der Gründung von ADEFRA und der ISD (Siehe ADEFRA und ISD, 1986) und mit zwei feministischen Tagungen Anfang der 90er Jahre (siehe Feministische Selbstorganisation, 1990). Allerdings waren ostdeutsche migrantische Perspektiven noch nicht so stark und hörbar vertreten. Dies scheint sich nach und nach Anfang der 2020er zu ändern, unter anderem durch:
DaMOst „Projekt Migost“: Der Dachverband der Migrant*innenorganisation in Deutschland veranstaltet mit seinem Projekt Erzählcafes von Zeitzeug*innen der Vertragsarbeit, aus deren Inhalt Theaterstücke, Ausstellungen und Stadtführungen entstehen sollen
– Buch von Lydia Lierke und Massimo Perinelli: „Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“: Beschreibt die Situation von migrantischen und jüdischen Menschen nach dem Mauerfall in Ost und West und ihre Kämpfe um Teilhabe in den 1980er Jahren, während und nach der Wende
Katharina Warda „Dunkeldeutschland“: Der Name des Projektes, das aus Essays und Videos besteht, ist als Anlehnung an eine westdeutsche Bezeichnung Ostdeutschlands in den 1990ern zu sehen. Hier wurde der Osten als trist, grau und abgehängt verstanden. Der Begriff bekam während der Zunahme von rechtsextremer Gewalt nochmal eine andere Bedeutung und erlebte seine Wiederverwendung 2015 durch Joachim Gauck. Das Projekt ist persönlich und erzählt Wardas Geschichte vom Aufwachsen in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, ihren Erfahrungen als Schwarze Ostdeutsche, der Wendezeit und ihrer Liebe zu Punk.
BpB Gera: 2020 eröffnet die Bundeszentrale für politische Bildung zum ersten Mal einen Standort in Ostdeutschland, geleitet von Peggy Piesche, die selbst in Thüringen aufwächst und einer der bekanntesten Schwarzen Vertreter*innen u.a. durch Tätigkeiten bei ADEFRA und ISD in Deutschland ist. Der neue Standort ermöglicht eine verstärkte Sichtbarkeit Ostdeutschlands in der bildungspolitischen Arbeit u. a. dadurch, dass Menschen für Veranstaltungen nach Gera anreisen.
Vossis: Kinder und Enkelkinder von ehemaligen Vertragsarbeitenden in der DDR machen ihre Stimmen hörbar und berichten von der Migration der ersten Generation, ihrem Leben in der DDR, der Wendezeit, anti-asiatischem Rassismus und der gegenwärtigen Verbindung und Wahrnehmung von vietnamesisch- deutschem Leben der Folgegeneration in Ostdeutschland.
PostOst: Der Begriff fasst Menschen zusammen, die aus Ländern migriert sind, die als russischsprachig, osteuropäisch, post-sowjetisch oder dem „Ostblock“ angehörend markiert werden, oder der zweiten bzw. dritten Generation angehören. Somit fasst er sowohl die Erfahrungen von westdeutschen, als auch ostdeutschen Perspektiven zusammen. Anlehnend an Begrifflichkeiten wie postmigrantisch versucht er ein neues Verständnis davon zu entwickeln, was osteuropäisch bedeuten kann und zu hinterfragen, welche Vorstellungen damit zusammenhängen. Immer öfter melden sich vor allem jüngere Menschen zu Wort und versuchen aus einer kulturellen und politisch-aktivistischen Sicht (etwa der PostOst-Migrantifa) den Begriff zu füllen und zum Beispiel Fragen von Zugehörigkeit, Ausschlüssen und Identitäten zu verhandeln. Da die unter dem Begriff gedachten Menschen unterschiedlich sind, wird auch immer wieder die Notwendigkeit einer intersektionalen Betrachtung gefordert.