Erkunde die Geschichte von Migration, Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit in Deutschland und den USA über die Jahrhunderte.
1976
Familiennachzug und Sprachpolitik
Diese Menschen erhielten auf Grundlage des Ausländergesetzes von 1965 (siehe Erstes „Ausländergesetz”, 1965) eine Aufenthalts- bzw. Zuzugsgenehmigung. Während sich 1972 ca. 250 000 Kinder von Migrant*innen dauerhaft in der BRD aufhielten waren es 1979 mehr als eine halbe Million. Als Reaktion auf den verstärkten Nachzug hatte die zuständige Kultusministerkonferenz (KMK) bereits 1964 und in ähnlicher Form 1971 Empfehlungen zur Eingliederung der Schüler*innen herausgegeben. Diese waren: Nachgehen der gesetzlichen Schulpflicht; Angebot des muttersprachlichen Unterrichts bei einer möglichen Rückkehr; Durchführung des Unterrichts gemeinsam mit deutschen Kindern mit einer möglichen zeitlichen Trennung zum Zwecke der Sprachförderung in gesonderten Vorbereitungsklassen. Aufgrund der Kultur- bzw Schulhoheit der einzelnen Bundesländer entwickelte sich jedoch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine Praxis die den integrativen Zielsetzungen der KMK grundsätzlich widersprach.
Die unterschiedlichen Varianten, die sich in der Folgezeit herausgebildet haben, folgten regionalen schulpolitischen Traditionen. Sie reichten von Förderkursen, über besondere V-Klassen zur Vorbereitung auf den Regelunterricht bis zu parallel aufgebauten nationalen („zweisprachigen“) Regelklassen. Auch gab es sogenannte Vorbereitungsklassen in Langform, die von muttersprachlichen Lehrer*innen betrieben wurden. Die Schulverwaltungen hatten so einerseits dem Druck der deutschen Lehrer*innen nachgegeben nach Sprache und Leistungsvermögen homogene Lerngruppen einzurichten und zwischen Regelklassen und speziellen Klassen für die Kinder von Migrant*innen zu unterscheiden. Gleichzeitig reagierten sie aber auch auf die Erwartungen migrantischer Eltern und teilweise auch der Regierungen der Entsendeländer, allen Vorrang Griechenland, die ihrerseits ihre Kinder vor Einflüssen der Aufnahmegesellschaft und Diskriminierungserfahrungen schützen wollten. Vor allem Eltern mit unsicherem Aufenthaltsstatus drängten zum Teil auf nationale Klassen oder Schulen, um eine Rückkehr für die Kinder möglichst problemlos gestalten zu können. Entgegen der Absicht der KMK-Empfehlung hatte sich so Ende der 19070er Jahre ansatzweise ein Parallelschulsystem herausgebildet, in dem die Kinder nach nationaler Herkunft in segregierten (Sonder-)Klassen und sogar vollständig segregierten (nationalen Sonder-) Schulen unterrichtet wurden, die selten in die Regelschulen, aber schon gar nicht in höher qualifizierende Bildungsgänge mündeten.
1976 und 1979 gab die KMK als Reaktion erneut Empfehlungen mit einem verstärkten Fokus auf die Rückkehrförderung. Damit legitimierte sie nachträglich die eingetretene Praxis der Aussonderung. Die Beschlüsse gaben den Bundesländern einen weiten Spielraum für eine segregierende Schulpolitik. Überstieg der Anteil der Schüler*innen nicht-deutscher Herkunftssprache pro Klasse um ein Fünftel, war die Bildung sogenannter „reiner Ausländerklassen“ erlaubt. Diese folgten den Lehrplänen und der Unterricht fand in deutscher Sprache statt, die Klasse bestand jedoch nur aus Kindern von Migrant*innen.
Dass jedoch die schulische Situation migrantischer Kinder in Deutschland auch im internationalen Vergleich weiterhin unbefriedigend ist, wurde im Jahr 2000 durch eine von der OECD initiierte Studie mit großem publizistischem Aufwand thematisiert, der sogenannten PISA-Studie. Sie zeigte das große Gefälle in den Schulerfolgen entlang der Trennlinien soziale Herkunft, familiären und persönlichen Migrationserfahrungen und Geschlecht (siehe PISA-Studie, 2003).
Die haben das damals so gemacht, dass sie alle Ausländer in eine Klasse gesteckt haben. Das habe ich auch von anderen gehört.
- Milay
Geschichtensammlung with WINGS and ROOTS
Germany
Sources
Frank-Olaf Radtke. Migration - eine Herausforderung für das bundesdeutsche Schulsystem. In: Projekt Migration. Seiten S. 454-473..
Janina Söhn. Rechtsstatus und Bildungschancen. Die staatliche Ungleichbehandlung von Migrantengruppen und ihre Konsequenzen.. Wiesbaden: VS Verlag.
Schultz, Hans Jörg N. (1980): Apartheid in Mannheim? In: Die Zeit, 14.11.1980 Nr. 47..
Zimmer, Jürgen (1985): Die Solidarität beginnt vor unserer Haustür. In: Die Zeit, 1.3.1985 Nr. 10..
Additional Resources
Rassismus und Klassen-Raum. Segregation nach Herkunft an Berliner Grundschulen. sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, [S.l.], n. 2, p. 61-78, Dez. 2013.