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Erkunde die Geschichte von Migration, Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit in Deutschland und den USA über die Jahrhunderte.

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1871
-
1914
Antisemitismus und Widerstand im Kaiserreich

In der Gründungszeit des Kaiserreichs verstärken sich antisemitische Tendenzen in Gesellschaft und Politik. Die ersten antisemitischen Parteien ziehen ins Parlament ein, während sich in der jüdischen Gemeinschaft ein breiter Widerstand bildet.

Der massive wirtschaftliche Aufschwung in den ersten Jahren nach der Reichsgründung findet 1873 mit der Weltwirtschaftskrise, später auch Große Depression genannt ein jähes Ende. Massenentlassungen und ein massiver Rückgang der Produktion folgen. Mittelständische Bürger*innen und entlassene Arbeiter*innen sind die Leidtragenden. Der Antisemitismus wächst, weil Jüd*innen öffentlich für die Krise verantwortlich gemacht werden.Antisemitisch ausgerichtete politische Gruppen wie die „Berliner Bewegung“ nutzen die wachsende Unzufriedenheit, um ihre Ideologie mittels umfangreicher Propaganda zu verbreiten. Bis Mitte der 1870er Jahre etabliert sich in der Gesellschaft eine starke antisemitische Haltung. Jahre später erreicht sie durch den „Antisemitismus-Streit“ auch die Bildungselite. 1880 verfassen die Lehrer Bernhard Förster und der Publizist Max Liebermann eine „Antisemiten-Petition“. Diese fordert die Aufhebung der verfassungsrechtlichen Gleichstellung von Jüd*innen und ihren Ausschluss aus Regierungsämtern. Des Weiteren wird ein Einwanderungsverbot von sogenannten „Ostjüd*innen“ verlangt. (siehe Arbeitsmigration im Kaiserreich, 1880). Etwa 250.000 Menschen unterschreiben sie. Zu den Unterzeichner*innen zählen neben Professor*innen, Kaufleuten und Rechtsanwält*innen vor allem Studierende und ihre Burschenschaften. Charakteristisch für die Petition, ist ihre rassistische Konzeption, die den einstigen religiös motivierten Antijudaismus ablöst und nunmehr von einer völkischen Ideologie geprägt ist. Im Zuge dessen findet der Begriff Antisemitismus Einzug in den deutschen Sprachgebrauch, obwohl er genau definiert die Gegnerschaft gegenüber der semitischen Sprachfamilie beschreibt. Im Kontext der politischen Geschehnisse jener Zeit wird es aber als Feindschaft gegenüber jüdischen Menschen verstanden und reproduziert. Reichskanzler Bismarck ignoriert die Petition. Mit der Gründung der „Deutschsozialen Partei“ und der „Antisemtischen Volkspartei“ (später „Deutsche Reformpartei“) Anfang der 1890er Jahre wird die antisemitische Ideologie in der Politik präsent. Bei den Reichstagswahlen 1893 verbuchen beide Parteien einen Zuwachs ihrer Wähler*innenschaft und können insgesamt 16 Abgeordnete stellen. Im Jahr darauf schließen sich die Parteien zur „Deutschsozialen Reformpartei“ zusammen. Nach den anfänglichen Erfolgen erleiden sie eine Wahlniederlage und beenden das Bündnis. Beide Splitterparteien scheitern auch bei den nächsten Wahlen, wodurch der offene Antisemitismus zunächst von der politischen Bühne verschwindet. Dies ändert sich wieder mit den Reichstagswahlen 1913, welche von den antisemitischen Parteien und Gruppierungen später als „Judenwahlen“ bezeichnet werden. Sie vermuten hinter dem klaren Wahlsieg der SPD „jüdische Kräfte“ und weigern sich, das neue Parlament anzuerkennen. Parlamentarische Relevanz haben die antisemitischen Parteien jedoch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges kaum. Außerparlamentarisch organisieren sich völkisch-nationale und rassistisch-antisemitische Verbände unmittelbar nach den Reichstagswahlen zur „Deutschvölkische Partei“ (später „Deutsche Vaterlandspartei“). Sie zählt 1918 rund 800.000 Mitglieder und fungiert als Sammelbecken für viele nationale Verbände und rechte Organisationen. Als Reaktion auf den erstarkenden Antisemitismus in Politik und Gesellschaft im Kaiserreich gründet sich 1893 der Central-Verein deutscher Staatsbürger*innen jüdischen Glaubens, dem in kurzer Zeit mehrere zehntausend Menschen beitreten. Sie kämpfen für Bürgerrechte, Gleichstellung und die Vereinbarkeit von „Deutschsein“ und „Jüdischsein“. Während der Weimarer Republik und dem Beginn des Nationalsozialismus ist der Central-Verein die bedeutendste Organisation für die Interessen jüdischer Menschen, bis er 1938 verboten wird (siehe Antisemitismus und Widerstand in der Weimarer Republik, 1919-1933).
Als Reaktion auf den erstarkenden Antisemitismusgründet sich 1893 der Central-Verein deutscher Staatsbürger*innen jüdischen Glaubens, dem in kurzer Zeit mehrere zehntausend Menschen beitreten.
Germany
Sources
  1. Thomas Gräfe. Antisemitismus in Deutschland 1815-1918 – Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie. Auflage 2. Auflage. Books on Demand, 2013.
  2. Hans Ulrich Wehler. Deutsche Gesellschaftsgeschichte – Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. “Bd. 4.” Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1949. München: C.H. Beck, 2003.
  3. Massimo Ferrari Zumbini. Die Wurzeln des Bösen: Gründerjahre des Antisemitismus: von der Bismarckzeit zu Hitler. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann Verlag, 2003.
  4. Olaf Breschke. Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich. Auflage 1. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1997.
  5. Regina Schleicher. Antisemitismus in der Karikatur: Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im deutschen Kaiserreich (1871-1914). Auflage 1. Auflage. Frankfurt: Peter Lang, 2009.
  6. Johannes Leicht. Antisemitismus (Kaiserreich).  LeMO – Lebendiges Museum Online. Berlin: Deutsches Historisches Museum,  August 15, 2006. Aufgerufen am: July 7, 2015.
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